Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, aber an das Schweigen unserer Freunde.
Martin Luther King
Mobbing
Begriffsdefinition
Der Begriff „Mobbing“, entlehnt aus dem englischen „mob“ (Volksmenge, Pöbel) bzw. „to mob“ (jmd. angreifen, umringen, bedrängen), wurde erstmals von dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz zur Beschreibung des von ihm beobachteten Phänomens, dass sich mehrere Tiere zu einer Gruppe zusammenschließen, um einen überlegenen Feind zu bekämpfen, benutzt.
Eins der wichtigsten Kriterien für Mobbing, wie wir den Begriff heute verwenden, ist damit bereits erklärt: Bei Mobbing steht immer eine Gruppe einer einzelnen Person gegenüber. Wir sprechen also nicht von Mobbing – sondern von einem Konflikt –, wenn zwei Personen wiederholt miteinander in Streit geraten. Allerdings kann sich aus einem ungelösten Konflikt eine Mobbingsituation entwickeln, wenn einer der beiden Kontrahenten es schafft, weitere Gruppenmitglieder auf seine Seite zu ziehen.
Ein Problem bei der Verhinderung bzw. Beendung von Mobbing besteht darin, dass einzelne Mobbinghandlungen häufig als Konflikte fehlinterpretiert werden, weil sie nicht im Kontext aller Taten wahrgenommen werden. Daraus folgt die Notwendigkeit eines weiteren Kriteriums für die Begriffsdefinition: Von Mobbing sprechen wir, wenn sich Angriffe einer Gruppe oder einzelner Mitglieder dieser Gruppe auf eine bestimmte Person mehrfach und über einen längeren Zeitraum wiederholen!
Allein kann der Mensch nicht wohl bestehen,
daher schlägt er sich gern zu einer Partei,
weil er da, wenn auch nicht Ruhe,
doch Beruhigung und Sicherheit findet.
Johann Wolfgang von Goethe
Mobbing als gruppendynamischer Prozess
Überall dort, wo sich Menschen in einer Gruppe zusammenfinden, kommt es zur Interaktion und damit zu einer dynamischen Entwicklung. Dabei ist es für die Qualität der Beziehungen von entscheidender Bedeutung, ob die Gruppe ein gemeinsames Ziel hat oder ob eine konstruktiv wirkende Verbindung der einzelnen Gruppenmitglieder zueinander fehlt.
Eine Schulklasse ist – im Gegensatz zu einem Sportverein z. B., in dem ein gemeinsames Interesse von Anfang an vorhanden ist – eine willkürlich zusammengewürfelte Gemeinschaft. Es gibt nicht von vornherein ein verbindendes Element.
Zudem ist es für jedes sozial denkende und fühlende Wesen wichtig zu wissen, wo in einer Gemeinschaft sein Platz ist und welche Rolle es einnimmt. Aus diesen beiden Grundbedürfnissen heraus entwickeln sich die Interaktionen innerhalb einer Gruppe:
- Wohin, zu welchem Ziel, führt uns unsere Gemeinschaft?
- Welche Rolle/Funktion besetzt jeder innerhalb der Gruppe, um dieses Ziel zu erreichen?
Das Rollenmodell nach Raol Schindler unterscheidet dabei folgende Positionen:
- Alpha-Position: Anführer, „Leitwolf“ der Gruppe
- Beta-Position: Experte, berät Alpha
- Gamma-Position: Arbeiter, Mitläufer, passt sich Alpha an, stützt seine Autorität, prägt das Gruppenklima (die Mehrheit)
- Omega-Position: „Querulant“, Außenseiter
Wird eine Gruppe neu zusammengestellt, werden in einer ersten Phase die jeweiligen Rollen bestimmt und ein gemeinsames Ziel definiert. Das sich dabei entwickelnde Zusammengehörigkeitsgefühl und die gemeinsame Zielsetzung entscheiden über die Stimmung in der Gruppe.
Gelingen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine konstruktive Zielsetzung nicht, zerfällt die Gruppe und sucht sich – um das Zusammengehörigkeitsgefühl auf andere Weise zu stärken – ein „Ersatzziel“, z. B. die Ausgrenzung eines Gruppenmitglieds. Dadurch entsteht wiederum für den Rest der Gruppe ein besseres „Wir-Gefühl“. Die dabei stattfindenden Machtkämpfe (jeder will dazugehören, keiner „draußen“ stehen) verbrauchen viel Energie und verunsichern die gesamte Gruppe.
Das Zugehören zu einer Gemeinschaft ist für uns Menschen so überlebenswichtig wie Essen, Trinken und Schlafen. Es gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Entwicklungspsychologisch betrachtet hängt dieses Bedürfnis mit unserer Vergangenheit zusammen: In früheren Zeiten hatte ein einzelnes Individuum ohne den Schutz der Gruppe keine Überlebenschance. Sicherheit bot nur die Gruppe. Soziale Isolation, wie sie Mobbingopfer erleben, ist daher die maßgebliche krankmachende Folge von Mobbing!
In einem Mobbingprozess ist die Gruppe die treibende Kraft. Es geht nicht um Täter und Opfer als Individuen, sondern um das Verhalten der gesamten Gruppe. Was die Peers (die Bezugspersonen, die „Gammas“) tun, ob sie als Verteidiger von „Omega“ auftreten, neutral bleiben oder sich nach und nach der vom Täter vorgegebenen Sichtweise anschließen entscheidet darüber, ob es zu Mobbing kommt oder nicht.
Gibt es Opfertypen?
Mobbing beginnt nicht beim Opfer. Die Frage: Warum der? Warum die? ist in etwa so leicht zu beantworten wie die Frage, warum Herrn Meyer und nicht Frau Müller, die direkt neben ihm stand, der Dachziegel auf den Kopf gefallen ist.
Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, innere oder äußere individuelle Merkmale. Ob jemand groß oder klein, dick oder dünn, rothaarig oder blond ist, ist ebenso irrelevant wie die Tatsache, ob jemand laut oder leise, stark oder schwach, klug oder weniger klug ist.
Nicht die individuellen Eigenschaften eines potentiellen Opfers sind entscheidend, sondern das Bedürfnis des Täters und seine Befähigung, Schwachstellen anderer zu erkennen und seine Definition von richtig und falsch, gut und schlecht als für alle verbindliche Norm darzustellen.
Wer sind die Täter?
„Mobber“ sind Gruppenmitglieder, die mit der ihnen zugewiesenen Position nicht zufrieden sind, die nach mehr Anerkennung bzw. nach einem stärkeren persönlichen Verbundenheitsgefühl mit der restlichen Gruppe streben. Daraus ergibt sich die erste Präventions- bzw. Interventionsmöglichkeit: Wenn wir uns bewusst machen, dass Mobbing nicht beim Opfer beginnt sondern beim Täter, resultiert daraus, dass wir dafür sorgen müssen, dass sich jeder mit seiner Position innerhalb der Gemeinschaft wohlfühlt.
Die drei Mobbingphasen
Mobbing beginnt nicht plötzlich, sondern ist ein zunächst im Verborgenen stattfindender, schleichender Prozess. Das macht es so schwer, Mobbing rechtzeitig zu erkennen und zu stoppen. Die Entwicklung lässt sich in drei Phasen unterteilen:
- Evaluierung
Der Täter attackiert abwechselnd verschiedene Gruppenmitglieder, eine Festlegung auf ein bestimmtes Opfer ist noch nicht ersichtlich. - Konsolidierung
Der Täter hat ein geeignetes Opfer gefunden. Die Angriffe konzentrieren sich zunehmend auf dieses Gruppenmitglied. Andere Gruppenmitglieder wenden sich nach und nach von dem Außenseiter ab, um nicht selbst in die Schusslinie zu geraten. - Manifestierung
Die Rolle des Opfers ist stabil. Der Täter hat die für die Gruppe geltenden Werte und Normen neu bestimmt und die Gruppe hat seine Definition übernommen. Das Opfer entspricht nicht den nun geltenden Werten und Normen, die von der übrigen Gruppe vereinbart wurden, und verkörpert fortan das Feindbild.
Die Folgen für das Opfer
Die Folgen für das Opfer sind gravierend. Die permanente Erfahrung von Zurückweisung führt zu einem negativen Selbstbild. Das Opfer glaubt schließlich, die Ablehnung verdient zu haben. Die daraus folgende soziale Isolation bedeutet den Verlust von Sicherheit – und damit permanenten Stress, denn das Opfer weiß nie, wann und aus welcher Richtung der nächste Angriff erfolgt. Die Ausschüttung von Stresshormonen und -botenstoffen führt zu anhaltenden psychischen und physischen Erkrankungen bis hin zu Suizid.
Aber auch für die restliche Gruppe ist keine entspannte Lernumgebung mehr gegeben. Angst (selbst zum Opfer zu werden), Scham (nicht einzugreifen) und Misstrauen prägen die Stimmung.
Mobbing als Gewaltakt
Der Begriff der „Gewalt“ ist für viele Menschen mit körperlichen Attacken verknüpft. Dabei haben Mobbingattacken nur in einigen Fällen auch physischen Charakter.
Schlimmer noch als Schläge sind für das Opfer meistens die permanenten Demütigungen und Schikanen, die es erdulden muss. Missbilligende Blicke, Auslachen, Ausgrenzung, aber auch Schimpfworte, nicht ausreden lassen, lächerlich machen, Gerüchte verbreiten … schädigen das Selbstbewusstsein und lassen das Opfer allein, denn es erfährt dafür keinen Täter-Opfer-Ausgleich, keine Gerechtigkeit: Die meisten Erwachsenen (Lehrer, Erzieher, aber auch Eltern) reagieren erst, wenn ein Kind oder Jugendlicher von anderen geschlagen wird. Beschimpfungen, missbilligende Blicke, obszöne Gesten, nicht mitspielen lassen etc. werden von ihnen gar nicht erst wahrgenommen oder als nicht so schlimm empfunden.
Das Opfer erfährt also, dass es für die Erwachsenen okay ist, wenn die anderen es so behandeln. Dies wiederum verstärkt das negative Selbstbild, denn wenn niemand eingreift, scheint es diese Behandlung ja sogar in den Augen der verantwortlichen Erwachsenen verdient zu haben.
Für die Täter (und Mitläufer, Unterstützer) wiederum bedeutet ein Nicht-Einschreiten der Erwachsenen ebenfalls Zustimmung zu ihrem Handeln – und sie haben dementsprechend keinen Anlass, damit aufzuhören.
Cybermobbing
Cybermobbing kommt im schulischen Kontext in der Regel als Ausweitung des Mobbings im realen Leben, also auf dem Schulhof, vor. Anders ausgedrückt: Mobbing beginnt in der Mehrzahl der Fälle nicht in sozialen Netzwerken im Internet, sondern auf dem Schulhof. Deshalb ist jede Präventions- und Interventionsmaßnahme gegen Mobbing in der Schule auch eine Maßnahme gegen Cybermobbing.
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